Frankreich, 2016
Das Thema des Kannibalismus ist fast genau so alt wie die Filmgeschichte. Während er vorher zumeist nur als Randthema auftauchte, erlebte er in den 1970 Jahren eine kurzzeitige Welle von Exploitation-Filmen, in denen der Kannibalismus jedoch als Phänomen von „wilden“ Eingeborenstämmen behandelt wurde.
In den frühen 1990er Jahren wurde durch die Verfilmung von „Schweigen der Lämmer“ mit der Figur des Hannibal Lecter die Thematik nicht nur in das Mainstreamkino geholt (und durch die nachfolgenden Filme und die Serie auch dort etabliert), sondern zugleich auch kultiviert. Hannibal Lecter ist hochintelligent und gebildet, jedoch bleibt der Kannibalismus hier die abseitige Charaktereigenschaft eines einzelnen Wahnsinnigen.
Mit ihrem Debütfilm „Raw“ holte die Regisseurin (und Gewinnerin der Goldenen Palme von Cannes 2022) Julia Ducournau („Titane„) das Thema endgültig und ganz bewusst aus der Tabuzone heraus und plazierte es mitten in der Gesellschaft.
Der Film erlangte seinerzeit wegen des Zusammenbruchs zweier Zuschauer:innen während einer Vorstellung eine zweifelhafte Berühmtheit als besonders „grausamer Horrorfilm“, wogegen die Regisseurin sich allerdings verwehrt.
Weder will sie ihren Film als Horrorfilm verstanden wissen (was er trotz aller Elemente des Body-Horros auch nicht ist), noch sieht sie den Vorfall als ursächlich in ihrem Film begründet oder gar als repräsentative Reaktion des Publikums.
Das übertriebene Aufbauschen des Vorkommnisses durch die Presse habe ihrer Meinung nach der ernsthaften Rezeption des Films durchaus geschadet.
Nun ist „Raw“ tatsächlich kein Film, den man unbedingt zum Frühstück schauen sollte (was ich allerdings getan habe), aber er verfügt genau wie „Titane“ jenseits der Body-Horrorelemente über eine zutiefst menschliche und ergreifende Ebene.
Julia Ducournau, die auch hier wieder für das Drehbuch verantwortlich war, erzählt die Geschichte der jungen Justine, die aus einer streng vegetarisch lebenden Familie stammt, und an einer Universität, an der auch bereits ihre ältere Schwester studiert, ein Studium der Veterinärmedizin beginnt.
Nachdem sie bei den von den älteren Studierenden veranstalteten Initiationsriten rohe Hasennieren essen muss, reagiert ihr Körper darauf zuerst mit allergischen Reaktionen und später mit dem wachsenden Verlangen nach rohem Fleisch, zu erst nur von Tieren, dann jedoch auch von Menschen.
Die wenigen diesbezüglichen Momente des Film sind bei aller doch recht direkten Darstellung weit davon entfernt Selbstzweck oder gar Splatter zu sein, sondern fügen sich erstaunlich nahtlos in diese Coming-of-Age-Geschichte ein, was nicht zuletzt daran liegt, dass man sich als Zuschauer:in dank des feinfühligen Drehbuchs und der hervorragenden Darstellung der Schauspielerin Garance Marillier in vielen Momenten in der Figur der Justine wiederfinden kann.
Ducournau beweist in ihrem Debütfilm, unterstützt von Kameramann Ruben Impens und Komponist Jim Willaims, mit denen sie später auch für „Titane“ zusammengearbeitet hat, eine Stilsicherheit und erzählerische Reife wie sie ihr großes Vorbild David Cronenberg erst in seinen späteren Filmen erreichen sollte und empfiehlt sich nach nur zwei Filmen als eine der ungewöhnlichsten und interessantesten Autorenfilmer*innen der Gegenwart.
Hinterlasse einen Kommentar