Deutschland, 2020
2014 hatte Burhan Qurbani mit „Wir sind jung. Wir sind stark.“ einen sowohl kunstvollen als auch aufwühlenden Film über die rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im Jahr 2006 gedreht, der gezeigt hatte, was im deutschen Kino abseits flacher Komödien und steifer Sozialdramen möglich ist.
Den Schlachtruf aus dem Titel seines vorherigen Films greift Qurbani in „Berlin Alexanderplatz“ als Dialogzeile wieder auf, verknüpft die Filme dadurch, die sich thematisch näher sind als eins es auf den ersten Blick vermuten mag.
Hundert Jahre nach Erscheinen des Hauptwerks Alfred Döblins, der als Inbegriff des modernen deutschen Romans gilt, hat Qurbani die Geschichte aus der Weimarer Republik in das Berlin der Gegenwart verlegt. Aus dem ehemaligen Gefängnisinsassen Franz Biberkopf wird bei ihm der aus Guinea-Bissau geflohene Francis (Welket Bungué), der versucht in Deutschland ein neues und besseres Leben anzufangen und dabei, ganz wie sein literarisches Pendant, daran scheitert ein guter Mensch zu sein.
Als studierter Literaturwissenschaftler habe ich gegenüber solchen Neuinterpretationen oft eine gewisse Skepsis und zugegebenermaßen war es allein der Name Qurbani, der mich veranlasste dem Film eine Chance zu geben.
Natürlich darf eins nicht erwarten, dass der Film in 3 Stunden die gesamte Geschichte des Romans wiedergeben kann. Rainer Werner Fassbinder benötigte dafür in seiner Fernsehserie von 1980 14 Folgen a mindestens 60 Minuten.
Darum geht es dem Regisseur aber auch nicht. Er extrahiert die Grundhandlung mit ihren wichtigsten Ankerpunkten und dessen zentrale Aussage, die er um Problematiken wie Rassismus ergänzt.
Bei einem stilistisch bahnbrechenden Roman wie „Berlin Alexanderplatz„, der sich durch viele Wechsel in der Erzählperspektive, harte stilistische Brüche und eine zugleich immer wieder betörend schöne Sprache auszeichnete, stellt sich natürlich zudem die Frage, ob dieses Element bei der Übertragung in ein anderes Medium überhaupt erhalten bleiben kann.
Ja, kann es, wie Qurbanis Film eindrucksvoll beweist. Die stilistische Vielfalt spiegelt sich gekonnt im Einsatz unterschiedlichster Kameratechniken wieder. Von realistisch, ja fast dokumentarisch-trist anmutenden Bildern, über die gleißenden Neonlichtwelten des nächtlichen Berlins bis zu durch Farbfilter verfremdete und mystisch überhöhte Momente, gelingt es Kameramann Yoshi Heimrath, mit dem Qurbani auch schon bei seinen vorigen Filmen zusammengearbeitet hatte, für jede Szene das richtige Stilmittel zu finden, ohne dass es gewollt oder angestrengt (oder gar anstrengend) wirkt. Zudem verfügt der Film über den wirkungsvollsten Einsatz harter und langer Schwarzblenden, den ich seit langem gesehen habe.
Und genau wie Döblins Roman lässt sich der Film nicht in Genregrenzen pressen, er ist Sozialdrama, Liebesgeschichte, Gangster- und Großstadtfilm, zerrissen und doch aus einem Guss.
Die mädchenhaft anmutende Stimme der Erzählerin Mieze (Jella Haase), die den Film begleitet, trägt sowohl der poetischen als auch der moralischen Komponente von Döblins Roman Rechnung, ist sie doch mal Mahnerin vor dem drohenden Unglück, mal Träumerin einer besseren Welt.
Dem differenzierten und glaubwürdigen Spiel aller Schauspieler*innen, sowie Qurbanis Gespür als Regisseur ist es zu verdanken, dass das Ganze nicht zu verquastem Kunstkino verkommt, sondern eine Geschichte erzählt, die den Zuschauer mitnimmt, ja mitschleift, denn sie ist im besten Sinne des Wortes unangenehm und wunderschön zugleich.
Als ich dieses Review 2021 verfasste, hoffte ich inständig, Qurbani ließe sich bis zu seinem nächsten Film nicht wieder fünf Jahre Zeit, denn Stimmen wie die seine braucht das deutsche Kino viel öfter und sichtbarer. Wie ich gerade gelesen habe, hatte sein neuestes Werk „Kein Tier. So Wild.“ Anfang dieses Monats (von mir leider unbemerkt) seine Kinopremiere.
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