Olivers Filmwelten

Aus Leidenschaft zum Film


„Polytechnique“

Kanada, 2009

Bewertung: 5 von 5.

Das folgende Review enthält Spoiler zum Handlungsablauf.

Denis Villeneuve („Arrival“, „Dune“) ist einer meiner liebsten Gegenwartsregisseure, leider kenne ich noch nicht alle seiner älteren Filme.
„Polytechnique“ war eine dieser Lücken, die ich unbedingt schließen wollte.
In Deutschland leider nur als Bonusfilm im Mediabook von Villeneuves „Enemy“ erhältlich , hatte ich mir die britische Bluray geordert.
Villeneuves Film aus dem Jahr 2009, damals sein erstes Werk nach einer mehrjährigen kreativen Pause, erzählt vom Schulmassaker an der technischen Hochschule Polytechnique in Quebeck, Kanada 1989, bei dem der Täter aus misogynen Motiven heraus gezielt nur Frauen getötet hatte.
Aus drei verschiedenen Perspektiven beleuchtet Villeneuve den Tathergang: aus der Sicht des namenlosen Täters (erschreckend: Maxim Gaudette), der jungen Ingenieurs-Studentin Valérie (ergreifend: Karine Vanasse) und ihrem Studienkollegen Jean-François. Geschickt nutzt er dabei Zeitsprünge und die Perspektivwechsel, um in gerade mal 77 Minuten ein verdichtetes Bild des Geschehens zu zeichnen.
Der Film ist in teils wunderschönen Schwarzweiß-Bildern gehalten, bewusst vom Regisseur zur künstlerischen Abmilderung der schrecklichen Vorgänge gewählt. Er will sie anschaubar machen, um eine Auseinandersetzung mit ihnen zu ermöglichen.
Vielfach wurde Villeneuve vorgeworfen, er würde keine eindeutige Stellung beziehen, doch damit tut man ihm mehr als Unrecht.
Es geht ihm nicht um die Tat als solche und schon gar nicht um den Täter, der hier nicht umsonst namenlos bleibt.
Sein Hauptaugenmerk gilt der Figur der Valérie, eine jener starken Frauen, die der Täter als „Feministinnen“ bezeichnet und denen er die Schuld daran gibt, dass in seinem Leben nie etwas so lief wie geplant.
Valérie wird zum letzten Scheitern des Täters, denn sie überlebt schwer verwundet und setzt später ihre Traumkarriere als Luftfahrt-Ingenieurin erfolgreich fort.
Villeneuve schafft mit ihr eine Heldin abseits filmischer Klischees, indem er sie aus der Opferrolle herauswachsen und triumphieren läßt, wobei die Tat aber nicht, wie z.B. im Rape-and-Revenge-Genre, zur Initialzündung für die Entwicklung oder Emazipation der weiblichen Figur wird, sondern lediglich eine Unterbrechung auf ihrem bereits früher begonnenen selbstgewählten Weg darstellt; eine Tat, die zwar ihre seelischen Spuren hinterlässt, aber diesen Weg eben nicht wie geplant zu einem vorzeitigen Ende bringt.
Valérie zur Seite stellt Villeneuve die Figur ihres Studienkollegen Jean-François, für den die Tat, ohne selbst direktes oder geplantes Opfer zu sein (Männer werden vom Täter bewusst verschont), zu einem Erlebnis von Scheitern und Hilflosigkeit wird, an dem er letztendlich zerbricht.
Der Regisseur zeigt hierdurch die Absurdiät der Vorstellung des Killers auf, die Opfer seiner Tat wären nur diejenigen, die er dazu machen will, indem er sie auf sie schießt.
Bereits 2009 wurde vielfach gefragt, warum man einen Film machen muss über eine schreckliche Tat, die 20 Jahre zurückliegt. Und die gleichen Leute würden wahrscheinlich heute fragen, warum man diesen Film nochmals sechszehn Jahre später überhaupt noch anschauen sollte.
Ganz einfach, weil seine Thematik leider immer noch genauso aktuell ist. Das Weltbild, aus dem der Täter heraus damals vor 36 Jahren seine Tat begründete, begegnet einem noch heute unverändert. Und es ist viel mehr als nur falsch verstandener Feminismus.



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